WG62 – Briefentwurf an Alma Mahler
Neubabelsberg, Donnerstag, 1. September 1910, abends
Amerika
Ich will Dich vieles darüber fragen
dazu mußt Du mir in die Augen sehn
u ich können, damit Du mich recht
verstehst
Sicherheit d Diskretion
Im Bett mit den Leuchtern. Ich
fürchte fast, Du
Alles feine hat bisher geschlummert,
Du lockst es erst hervor. Du beschämst mich!
So sicher Deiner Liebe fühle ich mich
nicht, aber freilich habe ich die Herbheit
Deiner letzten Briefe nicht mißdeutet
_______________
Ich \der ferne Freund/ muß also \heute/ ganz aus der Ferne
und durch das \auf/ geheimen Schleich-
wegen heute in Dein geliebtes
die Belagerung Deines Herzens
durchbrechen. In meinen Träumen
gestalten sich meine \die/ Ovationen
freilich ganz anders. In meinem
Hang zu Phantastereien, halte
ich erträumte ebe ich Dir ganz an freilich
andere Ovationen. Dann bin ich
\###/ Prinz und reite über den
kostbaren Teppich geradeaus
auf Dein Bette, wo Du zwischen
den dreiarmigen Leuchten harrst,
mich zu empfangen. Hinter mir
schleppt man Dir alle Geschenke
herbei, die meine suchenden Augen
\die vergangenen Wochen hindurch/ in allen den Läden der Großstadt
auserwählten – wenig bleibt
übrig von diesem Füllhorn
wenn der Traum zu Ende ist
einen großen Hut mit Eulen-
federn hätt ich Dir gar zu gern
geschenkt, er müßte Dir
herrlich stehen.
Bücher findest Du poste
restante, da Dein Brief noch
nicht da war.
Das kanntest
Du noch nicht. Ich kenne u liebe
es, hoffe, es einmal von Dir
zu hören. Es wirkt auf mich
berei geradezu klassisch.
Die Fülle Melodien besitze
ich unvergeßbar. Ich Ist es
richtig, daß ich Dir die Partitur
sende? Es muß übrigens ein
Glück sein, Töne so zu lesen wie
Worte, es glich ob ich das bei
Dir noch lernen werde? Ich kann
notdürftig die Melodien ver-
folgen, mehr nicht.
Den -Roman \von/
habe ich eben gelesen dem ich \schon/ lange
wußte habe ich auch erst schnell ge-
lesen ehe ich ihn Dir sende. Ich
finde ihn meisterhaft prachtvoll.
In diesem ### \### empfänglichen/ Zeiten der Lei-
denschaft empfindet man diese
feinen Schattierungen der Menschen-
seelen, die sich meisterhaft da schildert.
Der Schluß entzückt mich vollends
u söhnt mich ganz mit aus
den ich bereits arg im Verdacht
der gallischen Frivolität hatte.
Ich verspreche Dir einen Genuß
mit diesem Buche. Die herrlichen
Eigenschaften der schönen Gina
erinnerten mich oft an die
eigne Geliebte.
Die chines.[ische] Jacke sende ich Dir
also am 2. Ich trug sie einst auf
selber auf einem Kostümfest.
Dir muß sie herrlich \###/ stehen denn
nun liegt sie seit Jahren auf meiner
Chaiselong in meinem Zimmer
und ich freute mich täglich an ihrer
der kunstvollen Arbeit. Dir muß
sie herrlich stehen. Daß sie schon
etwas ruiniert ist darf Dich
nicht stören, sie ist bestimmt
200 Jahre alt. Ich freue mich unendlich
daß Du sie haben willst.
Du bräuchtest \ja/ viel schönere
Geschenke mein Lieb aber nimm \ich schäme mich daß ich solange davon schrieb/
sie als meine Kleinigkeiten,
aber nimm sie \gütig/ mit derselben
Liebe gütig entgegen, die sie
Dir gab. \Mit/ Dieser Liebe brauche ich
Dir nur schenken \nicht nur zu sprechen/ und \aber/ sende sie
Dir heute in verschwenderischerster
Fülle. Und wenn Du Dich heut
an Deinem Feiertage zur Ruhe legst
dann komme ich im Geiste zu Dir
von jenem Fenster aus da ich einstens
schluchzend stand und weile
bei Dir die ganze Nacht hindurch
u küsse und umarme Dich
[am linken Blattrand:]
Es ist ein schönes Vergnügen,
schenken zu dürfen
Apparat
Überlieferung
, , , , , .
Quellenbeschreibung
3 Bl. (3 b. S.) – Notizblock.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
Antwort auf AM26 vom 27. August 1910 (Die chinesische Jacke will ich haben […] schicke sie am Freitag[,] den 2[.] September von Berlin ab): Die chines.[ische] Jacke sende ich Dir also am 2.
Datierung
Der vorliegende Briefentwurf scheint eine Zusammenfassung bzw. Verbindung der Themen und Formulierungen zu sein, die WG in WG56, WG57 und WG58 gleichsam vorbereitet hatte, darunter der Hut mit Eulenfedern, der Roman von , das , der Aufenthalt in München oder die Reise in die USA. Aufgrund dessen sowie der Länge dieses Entwurfs kann angenommen werden, dass es sich hierbei um den Entwurf für den Geburtstagsbrief an AM handelt. Da WG aufgrund einer verzögerten Postsendung von AM26 jedoch mehrere Tage keine Nachricht von AM erhielt und sich zunehmend Sorgen machte (s. WG59), konnte er seinen Geburtstagsbrief, zu dem WG62 den Entwurf darstellt, erst am 1. September 1910, abends, nach dem Eintreffen von AM26 verfassen.
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Bettina Schuster)
Bett mit den Leuchtern – s. AM26 vom 27. August 1910: 2 3armigen Empireleuchten.
Du beschämst mich! – s. WG60 vom 1. September 1910, abends: du beschämst mich.
Dein Brief – AM26 vom 27. August 1910, der jedoch erst am 1. September bei eingegangen war, mit Anweisung zum Verschicken der Bücher.
deutsche Requiem – s. WG55 vom 27. August 1910: Deutsches Requiem?
Es muß […] lernen werde? – sehr ähnliche Passage in WG56 vom 27. August 1910: Es muß ein Glück sein, Töne so zu lesen, wie Worte. Ob ich das wol einmal bei Dir lernen werde.
Der Schluß […] Frivolität hatte. – fast wortgenau in WG56 vom 27. August 1910, letztes Blatt, erster Absatz.
Gina – Protagonistin in Roman .
an Deinem Feiertage – suggerierte hiermit eine Niederschrift an Geburtstag.
von jenem Fenster aus – Im Rahmen der Aufdeckung der Affäre Anfang August 1910, war nach Toblach gereist und hatte in einem Baum sitzend das Ehepaar beobachtet, s. WG32 vom 4. August 1910.